eine geschichte für ein haus

oder: michelle und die villa dall'ava

copyright © motu 1998

michelle öffnete ihre lippen und sog die kühle abendluft durch ihre zähne, ihre augen waren geschlossen, doch sie sah trotzdem all die dinge vor sich. zu viel zeit hatte sie bereits im warmen pool am dach des hauses verbracht. wie immer stand sie an der gleichen stelle, mit dem rücken zum poolrand, die glatte wasserfläche vor ihr erinnerte sie oft an eine landebahn, und dann hinaus in den himmel über paris. in ihrem nacken fühlte sie das leichte schaukeln des wassers, nur ihr kopf ragte am ende der landebahn heraus, der rest befand sich im warmen bauch des schmetterlings.
happy new year
sie öffnete die augen, ihre langen blonden haare schwammen vor ihr am wasser, sie hob den blick und fixierte sofort den turm. dort hatte sie sich noch vor wenigen stunden befunden und sie hatte das gefühl ihre eigenen blicke einzufangen. dort wo sich ihre blicke das erste mal getroffen haben und wo er sie das erste mal küsste. ein kurzer schauer lief ihr über den rücken und ihre nägel grallten sich in ihre schenkel.
holly wusste nicht was er von ihr und dem was sie ihm erzählt hatte denken sollte, seine gedanken kreisten, wirbelten herum, wurden immer schneller und frohren dann ein. ein lautes klirren links holte ihn wieder in die realität, er versuchte sich auf den verkehr zu konzentrieren, doch er konnte ihren anblick nicht aus seinem kopf bekommen, ihre wunderbaren augen, ihre lippen, ihre langen blonden haare, ihre art sich zu bewegen. allein der gedanke an sie, trieb ihn in den wahnsinn.
happy new year
er hatte keine ahnung wie sie auf ihn gekommen war, er hatte sie noch nie zuvor gesehen. gestern läutete sein telefon und schon einige sekunden später hatte die fremde frauenstimme holly verzaubert. vor ein paar stunden traf er sich mit ihr auf der spitze des eiffel-turms und er konnte noch immer nicht glauben, dass er jetzt auf dem weg zu ihr nach hause war. worauf hatte er sich da bloss eingelassen, das einzige was er wusste war ihr name, michelle. er wiederholte ihren namen, immer und immer wieder. er nahm das foto vom nebensitz und sah es an. auf dem foto war ein haus, ein sehr ungewöhnliches haus, und er kam dem hügel auf dem es steht immer näher, bald würde er da sein.
happy new year
alan war umgeben von touristen, alle wollten sie hinauf. schon jahre war er nicht mehr dagewesen. der schweiss stand ihm auf der stirn, er nahm einen schluck pierre und versuchte einen klaren kopf zu bekommen. er hatte keine wahl, also stellte er sich ans ende einer der riesigen menschenschlangen. seine linke hand steckte in der manteltasche und umklammerte verkrampft einen kleinen zettel mit einer telefonnummer, in seiner rechten hielt er noch immer die flasche pierre. wie oft hatte er schon die nummer gewählt und niemanden errecht, seitdem er vor drei tagen das anonyme schreiben bekam. alles was er mitnehmen sollte hatte er dabei, eine pistole, ein telefon, den zettel mit der nummer und eine paar münzen für die ferngläser auf der obersten plattform.
happy new year
sie nahm die hände aus dem wasser und griff nach dem telefon neben ihr. sie öffnete ihre augen und sah auf die uhr, es war nun zeit das telefon einzuschalten. ihre langen zahrten beine zitterten im wasser, bis auf die kleine uhr am handgelenk und dem lippenstift war sie splitternackt. plötzlich erfüllte ein lautes quietschen die luft und ihr atem wurde schneller. nachdem sie das telefon knapp neben ihrem kopf abgelegt hatte, liess sie ihre hände zurück ins wasser gleiten. wieviel zeit hatten sie hier früher gemeinsam verbracht, alan liess sich meist auf der luftmatratze treiben während sie ihn beobachtete. das grün des dachgartens schnitt ihre gedanken, sie schloss wieder die augen, wie oft hatten sie es dort getrieben. sie fühlte wie sich ihre knie in das vermooste gras drückten, dort wo sich der schatten des zaunes rytmisch über alans gesicht bewegte während sie auf ihm ritt.
happy new year
er hatte sich allmählich beruhigt, aus dem alten radio dröhnte „the power of love“, er traute seinen ohren nicht, welch ein zufall. die strassen waren schmäler geworden und nur hin und wieder begegnete ihm ein fahrzeug. er hielt ausschau nach dem ungewöhnlichen haus. eine schöne alte villa nach der anderen, doch da sah er plötzlich ein silbernes blitzen in der abendsonne, der anblick fesselte ihn. er riss das auto nach links, das quitschen der reifen fuhr hinaus in den abendhimmel und holly stand mit dem auto in der einfahrt.
nachdem er den motor abgestellt hatte nahm die sachen vom nebensitz und stieg aus dem auto. noch nie hatte er ein haus wie dieses gesehen, er starrte auf die riesige graue mauer mit dem langen fenster, und er dachte an michelle die da oben im pool sein sollte.
er wusste genau was zu tun war, zu oft war er in der kurzen zeit die punkte schritt für schritt durchgegangen und hatte sich den grundriss des hauses eingebrannt, zu viel stand auf dem spiel um es zu vermasseln. er begann mit seinem auftrag und stetzte den ersten schritt in richtung garage, den ihm bevorstehenden weg genau im kopf.
happy new year
seine hände steckten noch immer in den taschen. die beschleunigung des liftes und die verbrauchte warme luft in der kabine machten ihn verrückt. er versuchte abzuschalten, erinnerte sich an früher, dachte an michelle. wie oft waren sie früher hier gewesen, hatten hinausgestarrt in den leeren himmel und hatten sich geküsst. warum war seit einiger zeit alles anders, er konnte keine erklärung finden. er wechselte von einem bein aufs andere und versuchte sich ein wenig mehr platz zu verschaffen. er dachte an früher, wo sie gemeinsam oft wochenlang das haus nicht verlassen hatten. alan verbrachte die meiste zeit im geschoss des gartens, dort hatte er immer das gefühl im freien zu sein, dort standen die hohen schiebetüren aus glas immer offen. im herbst trug der wind manchmal die blätter herein, blies sie durch die küche bis zu ihren füssen unter dem speisetisch.
happy new year
alan dachte an das haus, an seine öffnungen, an das wasser auf dem dach. er hatte eine angewohnheit entwickelt, jeden tag durch das haus zu laufen, aber nicht irgendwie, sondern nach einem genauen schema. im laufe der zeit hatte er eine bestimmte route gefunden und diese immer wieder verfeinert. er hoffte etwas zu entdecken, wusste, dass das haus ein geheimnis in sich barg und begab sich jeden tag erneut auf die suche. doch er konnte nichts erkennen, immer schien im alles fremd, immer wieder war er überwältigt, wie einfach und doch komplex alles war. wie lange hatte er gebraucht um seinen route zu fixieren, wieviele möglichkeiten gab es dieses gebäude zu durchschreiten, er hatte keine ahnung, konnte keinen anfang und kein ende finden. er wischte sich mit dem ärmel den schweiss von der stirn, der lift war angekommen.
happy new year
wieder überkam sie ein leichter schauer, sie wusste er war da. sie erinnerte sich daran, wie verzaubert und verwirrt alan war, als er sie das erste mal in ihrem haus besuchte. wie würde es wohl dem jungen mann ergehen, der heute ihren plan ausführte. michelle fixierte wieder die turmspitze, sie blinzelte mit ihren augen und erinnerte sich an die warme prise die sie umhüllte, während alan sie das erste mal küsste. wie sehr hatte sie die zeit genossen, die sie mit ihm gemeinsam im haus verbracht hatte. sie hatte den metallischen klang der wendeltreppe im kopf, denn sie jedesmal vernahm wenn er die wendeltreppe heraufschritt. wenn er für sie kochte genoss sie die fliessenden bewegungen seiner silhouette, die durch die transparente küchenwand schimmerten und sie oft an ein pantomime-theaters erinnerten. sie wusste er war dort, die turmspitzte blitzte in der abendsonne.
happy new year
holly befand sich in der garage, er legte seine hand auf die türschnalle, wie erwartet war sie nicht verschlossen. nun hatte für in das spiel begonnen:

  1. durch die garage, die treppen hoch in den wohnraum
  2. vom wohnraum durch die küche, vor in den speiseraum
  3. die wendeltreppe hinunter in den vorraum, und hinüber in die gaderobe
  4. von der gaderobe hinaus durch die eingangstüre, in den silbernen wald
  5. durch den silberwald den garten hinauf bis zur freitreppe
  6. die freitreppe hinauf ins zimmer von michelle
  7. von michelles zimmer die innentreppe hinunter in den wohnraum
  8. die rampe hinunter in den vorraum
  9. die wendeltreppe hinauf in das gästezimmer
  10. vom gästezimmer hinaus auf die terrasse hinüber zur freitreppe
  11. die freitreppe hinauf auf die dachterrasse

holly zitterte am ganzen leib – das haus hatte ihn in seinem bann. er hatte selten so empfunden, und wenn überhaupt, dann nur für eine frau. der blaue anzug den er von michelle bekommen hatte, klebte an seinem körper.
holly war auf der dachterrasse angekommen. er sah michelle am poolrand, sein herz raste. er sagte kein wort, genau wie es ihm aufgetragen wurde, dann bewegte er sich in richtung pool. als er die höhe von michelle erreicht hatte, begann er „the power of love“ zu pfeifen, genau wie es ihm aufgetragen wurde, und schritt langsam die betonplatten. er blickte immer nach vorne, genau wie es ihm aufgetragen wurde. er hatte keine ahnung was michelle tat, hollys blicke verloren sich im abendhimmel.
happy new year
seine hände umschlungen das fernglas, die harten ränder drückten gegen seine augenhöhlen. alan spührte den kühlen luftzug auf seiner feuchten stirn. er hatte das fernglas auf das haus gerichtet, er sah michelle im pool und er sah noch wen, einen mann der hinter michelle stand. der mann trug einen blauen anzug, den gleichen wie er sie zu tragen pflegte. er drückte das fernglas fester an sich. er fühlte wie er den boden unter seinen füssen verlor und begann zu fallen. alles war verschwommen, er konnte erkennen wie sich der fremde gegenüber von michelle positionierte und seine hände über den kopf streckte. dann sah er wie der mann mit dem anzug bekleidet mit dem kopf voran in den pool sprang.

michelle hatte alles gehört, die knarren der stufen, die schritte im kies, die schritte auf den platten, sein pfeifen, seinen keuchenden atem. nach dem lauten klatsch spürte sie wie unendlich viele feine tropfen ihr gesicht benetzten. sie öffnete die augen, und sah einige meter vor sich die umrisse von holly unter der wasseroberfläche auf sie zukommen. sie blickte noch immer starr nach vorne. holly tauchte auf und schwamm weiter auf sie zu, genau wie sie es ihm aufgetragen hatte. michelles blick richtete sich auf die turmspitze. holly kam immer näher, bis seine lippen die von michelle berührten, er küsste sie. sekundenbruchteile danach hörte man aus dem telefon einen grellen knall.